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Zu Wort kommt ein ehemaliges „Kinderdorfkind“, inzwischen Mitglied im Verein Kind und Familie e. V.

Zitat: „Das Goldene Kinderdorf war und ist ein gutes ‚Sprungbrett‘, um sein Leben als Erwachsener selbst in die Hand zu nehmen. Meine Kinderdorf-Geschichte aus den siebziger/achtziger Jahren zeigt, dass sich im Vergleich zu heute vieles verändert hat. Zum Besseren oder Schlechteren  – das darf jeder selbst entscheiden. Ich kann nur für mich sprechen: Wäre ich nicht ins Kinderdorf gekommen, hätte mein Leben einen anderen Verlauf genommen – bestimmt keinen besseren!“ 

1977: Das „Goldene Kinderdorf“ war selbst Einheimischen fremd

Nachdem ich sehr schwierige Jahre in meiner Familie verbracht habe, kam ich im September 1976 in eine Kinderklinik. Dort wurde nach Weihnachten entschieden, dass ich nicht mehr zurück ins Elternhaus, sondern direkt in ein Heim kommen sollte. 

Im Januar 1977 fuhr ich in Begleitung einer Mitarbeiterin der Kinderklinik das erste Mal zum Goldenen Kinderdorf in Würzburg. Auf Höhe der St. Alfonskirche fragten wir einen Fußgänger nach dem richtigen Weg. Zu unserer Überraschung lautete die Antwort des älteren Herrn: „Hier oben gibt es kein Kinderdorf.“ Wir haben es dennoch gefunden. Beim Anblick des Kinderdorfs war die Antwort des Passanten jedoch nachzuvollziehen. Die vier Häuser des Kinderdorfs fügten sich völlig unauffällig in die benachbarten Reihenhäuser ein. Es gab weder ein Schild mit der Aufschrift „Goldenes Kinderdorf“ noch einen auffälligen Fassadenanstrich. Gruppenübergreifende Einrichtungen oder ein großer gemeinsamer Spielplatz fehlten ebenfalls.

Die vier braun gestrichenen Kinderdorfhäuser waren nahezu identisch. Jedes Haus hatte auf der Terrassenseite eine Wiese mit Bäumen. Hecken unterteilten die Parzellen, es gab nur schmale Durchgänge zu den jeweiligen Nebenhäusern. Gegenüber von Haus 3 war ein Abstellplatz für Fahrräder, direkt daneben ein Müllhäuschen. Darin befand sich ein Rollcontainer, in den der komplette Abfall der vier Kinderdorffamilien hineinflog. Ob Papier oder Plastik, ob Glas oder Biomüll – Mülltrennung war damals noch ein Fremdwort.   

In jedem Haus arbeiteten eine Hausmutter und eine Kinderpflegerin. Zweimal in der Woche kam vormittags eine Putzfrau (Frau Göbel in Haus 1 und 3, Frau Sittler in Haus 2 und 4). Mehr Personal gab es nicht. Praktikanten, Zivildienstleistende, Springerkräfte oder gar Psychologen/Therapeuten waren im Kinderdorf nicht beschäftigt.

Anfang 1977 hießen die Hausmütter im Kinderdorf Frau Eirich (Haus 1), Frau Ringleb (Haus 2), Frau Heßberger (Haus 3) und Frau Hovehne (Haus 4).  Bei meinem ersten Besuch sollte ich das Kinderdorf bzw. Haus 4 ein wenig kennenlernen, umgekehrt machte sich Frau Hovehne ein Bild von mir. Nachdem sie beschlossen hatte, mich in ihre Gruppe aufzunehmen, kam ich Anfang Februar als Elfjähriger in ihr Haus. Bis zu meinem 18. Geburtstag sollte die Matthias-Ehrenfried-Straße 30c mein Zuhause bleiben.

Hausmutter und Kinderpflegerin waren rund um die Uhr für uns da

Bei meiner Ankunft war neben der Hausmutter noch ein jüngeres Kind da. Alle anderen waren in der Schule oder im Kindergarten. Der Junge führte mich die Treppe hinauf und zeigte mir mein Bett. Es stand im größten Schlafraum. Unterteilt war der Raum durch einen auf der Rückseite tapezierten Schrank. Mein Zimmeranteil war zwar der kleinere, dafür war ich aber alleine. Meine beiden jüngeren Zimmernachbarn hatten ihr gemeinsames Reich auf der vorderen Schrankseite. Zwei Waschbecken waren links von der Zimmertür an der Wand montiert, eines war für die beiden „Kleinen“, das andere für mich reserviert.

Ansonsten sah es in Haus 4 damals folgendermaßen aus: Die Hausmutter wohnte im Erdgeschoss, sie hatte nur dieses eine Zimmer. Dort hat sie gewohnt und geschlafen, das war ihr Rückzugsort und gleichzeitig ihr Büro. Ein eigenes Bad hatte sie nicht. Das Badezimmer im Erdgeschoss mit seinen zwei Toiletten und drei Waschbecken war für alle da. Lediglich ein Waschbecken war für unsere Hausmutter reserviert, das war ihr einziger „exklusiver“ Luxus. Alles andere als luxuriös ausgestattet war die kleine Küche, eine Spülmaschine kam erst später hinzu. Im Wohn-/Esszimmer standen ein großer rechteckiger Tisch und eine Schrankwand.

Im ersten Stock hatte die Kinderpflegerin ihr kleines Zimmer inklusive Wandschrank und Waschbecken. Sie war wie unsere Hausmutter rund um die Uhr anwesend. Jedoch hatte die Kinderpflegerin an den Wochenenden meist frei, da unsere Hausmutter nur an wenigen Wochenenden im Jahr in ihr Elternhaus nach Norddeutschland fuhr, um ihre Mutter zu besuchen. Neben dem Zimmer für die Kinderpflegerin und dem Dreibettzimmer mit dem tapezierten Schrank gab es auf der ersten Etage noch ein Zweibettzimmer sowie ein Badezimmer. Letzteres war mit einer Dusche, einer Toilette und zwei Waschbecken ausgestattet.

Im Dachgeschoss befanden sich zwei winzige Einzelzimmer mit Holzdecken. Diese waren von den Gruppenältesten belegt. 1980 habe ich das kleinere der kleinen Einzelzimmer unter dem Dach bezogen. Bett und Schreibtisch passten geradeso hinein, der Kleiderschrank stand jedoch im Flur. Der Schrank daneben gehörte zum dritten Zimmer unter dem Dach, welches ein Zweibettzimmer inklusive Waschbecken war. Dort wohnten zwei Mädchen.

Im Kellergeschoss befand sich ein Spielzimmer, was jedoch aufgrund des Zehnpersonenhaushalts sehr oft als Wäscheraum und Bügelzimmer herhalten musste. Im Keller gab es zudem noch eine Waschküche, einen kleinen Raum mit Schuhregalen, ein Bad mit Wanne sowie einen Raum für die Lebensmittel und die Tiefkühltruhe.

Hausmutter musste mit dem Haushaltsgeld haushalten

Apropos Lebensmittel: Noch heute erinnere ich mich an ein besonderes Essenserlebnis. Kurz nachdem ich ins Kinderdorf gekommen war, gab es Wackelpudding zum Nachtisch. Ich wollte diese mir unbekannte grüne künstliche Masse nicht essen. Ich musste jedoch so lange sitzen bleiben, bis ich das Glasschälchen leer gegessen hatte. Das dauerte nicht nur ewig lange, es war zudem schrecklich, als Neuankömmling so viel länger als alle anderen am Esstisch sitzen bleiben zu müssen. Am Ende war nicht nur das Schälchen leer, die Kinderpflegerin hatte mir mit dieser Maßnahme auch Folgendes  klar gemacht: Sie hatte hier das Sagen, und es wurde gegessen was auf den Tisch kam.

Für die Jüngeren von uns gab es unter der Woche zum Frühstück Haferflocken oder Grießbrei, die Älteren aßen Brot. Brötchen standen in der Regel nur am Wochenende auf dem Frühstückstisch. Erst im Kinderdorf habe ich den Variantenreichtum an Gemüseeintöpfen und Aufläufen kennengelernt. Sehr gerne erinnere ich mich an die leckere Obstsuppe, die es an heißen Sommertagen gab. Und natürlich haben wir bergeweise Pfannkuchen oder Fischstäbchen verdrückt. Unter der Woche stand Fleisch eher selten auf dem Speiseplan. Fleischgerichte mit Klößen oder Nudeln gab es an Sonn- und Feiertagen. Abends gab es Wurst- und Käsebrote und immer wieder auch Schoko- oder Vanillepudding. Hawaii-Toast stand ebenso hoch im Kurs wie selbstgemachte Pizza. Was unsere Hausmutter und unsere Kinderpflegerin mit dem sicher nicht üppigen Haushaltsgeld Tag für Tag für insgesamt zehn Personen so alles hingezaubert haben, ist bis heute aller Ehren wert.   

Im Gedächtnis geblieben ist mir auch der Essensgong. Der hing zwischen Küche und Wohnzimmer und ertönte, wenn  alle zum Mittag- oder Abendessen kommen sollten. Das funktionierte gut, manchmal mussten aber doch die Kleinen die zwei Treppen hochlaufen, um die Großen aus ihren Dachzimmern zu holen.

Apropos laufen: Zur Schule fuhren die meisten Kinder mit dem Bus in die Stadt. In die Johannes-Kepler-Schule ging es natürlich zu Fuß. Kurz vor Ende des ersten Schulhalbjahres kam ich in die 5. Klasse. Die Schüler schauten mich an, als käme ich nicht vom Kinderdorf, sondern vom Mars. Da ich weder schulisch noch als Fußballer glänzte, blieb ich für die meisten von ihnen Heimkind und Außenseiter. Zudem fehlte mir durch meinen Krankenhausaufenthalt so viel Unterrichtsstoff, dass es besser war, die 5. Klasse freiwillig zu wiederholen. Damit kam ich im September wieder in eine neue Schulklasse. Zum Glück war diesmal noch ein Junge aus Haus 2 in der Klasse. Unabhängig davon hatte Schule für mich keinen besonders hohen Stellenwert – dementsprechend schlecht waren meine Noten  in der 5. Klasse. Schon in der Grundschule waren meine Zeugnisse nicht besonders gut. Das sollte sich ändern, was unter anderem an der sehr strengen Klassenlehrerin der fünften und sechsten Klasse lag. Sie hat unseren Wissensstand in Mathe und Deutsch jeden Tag geprüft. Noch nie hatte ich für die Schule so viel gebüffelt, wie bei dieser Lehrerin. Gefördert hatte mich zudem meine Hausmutter. Sie glaubte an mich, sie war stolz auf meine Entwicklung. Die freiwillige Ehrenrunde in der fünften Klasse hatte sich gelohnt: Denn am Ende meiner Schulzeit verließ ich die Schule mit einem sehr guten Abschlusszeugnis. Übrigens ging zu meiner Zeit nicht ein einziges Kinderdorfkind aufs Gymnasium. Die meisten waren auf der Hauptschule oder der Sonderschule, nur wenige auf der Realschule.

Ob Küche oder Garten, es gab einen Dienstplan für alle und alles

Zum Glück gab es aber nicht nur die Schule. Ich war erst seit wenigen Wochen im Kinderdorf, als meine Hausmutter beim Mittagessen fragte, wer heute in den Garten gehen würde? Nur mein Arm ging nach oben. Alle anderen Kinder schauten mich verwundert an und dachten wahrscheinlich: Was ist das denn für einer? Der geht freiwillig in den Garten? Für die Stadtkinder war das vielleicht merkwürdig, für mich war der Garten das Überbleibsel meiner „Land-Welt“. Die Arbeit auf dem Bauernhof, auf den Feldern und Obstwiesen begleitete mich durch meine Kindheit.

Als Reihenendhaus hatte Haus 4 damals den größten Garten. Auf beiden Seiten des Hauses gab es einen Nutzgarten für Salat, Gemüse und Beeren. Irgendwann pflanzte ich drei Weinreben direkt an dem Hausvorsprung zwischen Haus 3 und Haus 4. Die Weinreben wuchsen mit den Jahren bis zur Dachrinne hoch, die Trauben waren ausgesprochen lecker.

Meine Hausmutter freute sich, dass sie mit mir jemanden hatte, der ohne große Diskussion die Hecke schnitt und die Wiese mähte. Obwohl es damals weder eine elektrische Heckenschere noch einen Mäher mit Motor im Kinderdorf gab, habe ich beides gerne gemacht.

Bevor es jedoch in den Garten ging, standen die Hausaufgaben am Wohnzimmertisch an. Unsere Hausmutter und/oder die Kinderpflegerin hatten uns dabei geholfen. Später machte ich die Hausaufgaben alleine auf meinem Zimmer. Da war ich bereits vom Dreibett- in das Zweibettzimmer nach nebenan umgezogen und hatte einen eigenen Schreibtisch.

Wir mussten aber nicht nur unsere Hausaufgaben sorgfältig erledigen, das galt auch für vieles andere in Haus 4. Ob Küchen-, Tischdeck-, Tischabdeck-, Wäsche-, Bügel-, Staubsaug- oder Schuhputzdienst – in dem Dienstplan wurden wir alle wochenweise eingeteilt. Persönlich drückte ich mich ganz gern vor der Küche und putzte dafür lieber Schuhe. Das bedeutete nicht nur die eigenen, sondern die Schuhe aller zu putzen. Freiwillig hat das kaum einer getan. Ich putzte die Schuhe gerne. Zum einen hatte ich dabei meine Ruhe, und zum anderen freute ich mich darüber, wenn am Ende alle Schuhe sauber im Regal standen.

Neben dem Dienstplan gab es auch einen Gute-Nacht-Plan, der regelte, wie lange jeder aufbleiben durfte. Die Kleinen gingen direkt nach dem Abendessen ins Bett. Bis 14 Jahre war unter der Woche um 20.00 Uhr Nachtruhe angesagt, ab 14 Jahre durften wir  bis 21.00 Uhr aufbleiben. Für alle Älteren war um 22 Uhr Schluss. An den Wochenenden war der Gute-Nacht-Plan nicht ganz so penibel ausgelegt.

Sieben Tage die Woche streng ausgelegt hingegen waren die Telefonregeln. Telefonieren war damals alles andere als selbstverständlich. Wir hatten zwar ein Telefon, aber an der Wählscheibe war ein Schloss angebracht. Dieses entfernte die Hausmutter nur zu besonderen Anlässen oder im Notfall. Für uns Kinder war es völlig normal, in die Telefonzelle zu gehen. Aber telefonieren war eher die Ausnahme und den Erwachsenen vorbehalten.

Klar geregelt war auch, wer wann in die Dusche zu gehen hatte. Schließlich gab es für zehn Personen nur eine Dusche. In die Badewanne im Keller wollte kaum einer von uns, maximal um ein Erkältungsbad zu nehmen. 

 Erster Großeinkauf, erstes Taschengeld, erster Kindergeburtstag, erster Urlaub

Einkaufen stand ebenfalls auf dem Wochenplan. Vieles haben wir in den Geschäften auf der Keesburg gekauft. 1977 gab es hier noch zwei Bäckereien inklusive Tante-Emma-Laden, einen Metzger, zwei Lebensmittelmärkte und eine Drogerie. Das war auch gut so, denn unsere Hausmutter kaufte sich erst später ihr erstes Auto. Einen Kinderdorfbus gab es auch nicht. Somit fuhren wir zum Großeinkauf mit dem Linienbus in die Stadt. Ich erinnere mich noch an meinen ersten Einkauf im Aldi: Noch nie hatte ich einen so langen Kassenzettel gesehen. Am meisten erstaunte mich jedoch, dass die Kassiererin alle Preise auswendig wusste und rasend schnell in die Kasse tippte. Natürlich musste unsere Hausmutter an der Kasse mit Bargeld bezahlen. Schwer bepackt fuhren wir mit dem Bus Nummer 6 zurück.

Apropos Geld: Im Kinderdorf bekam ich mein erstes Taschengeld. Anfangs waren es 12 DM, mit 12 Jahren wurden es 24 DM und mit 14 Jahren 48 DM im Monat. Die Hausmutter bewahrte das Taschengeld in einer Geldkassette auf und zahlte es am Monatsanfang bar aus. In den ersten Jahren zahlte ich das Taschengeld fast immer komplett auf mein Sparbuch ein.

Neben der Taschengeldpremiere gab es weitere Premieren für mich: Im Kinderdorf feierte ich meinen ersten Kindergeburtstag. Zum 12. Geburtstag gab es von jedem „Familienmitglied“ ein kleines Geschenk. Meine Hausmutter backte einen Geburtstagskuchen, auf dem zwölf Kerzen brannten. Ich hatte zwar noch keine Freunde, die ich zu meiner ersten Geburtstagsparty einladen konnte, aber aus Haus 4 waren fast alle da.

Im Kinderdorf bin ich auch das erste Mal in Urlaub gefahren. Ich kann mich nicht mehr erinnern, wie wir auf den Bauernhof gekommen sind. Jedoch verbrachten wir dort sehr schöne Ferientage. Das Beste war, dass der Bauer mich auf dem Feld mit seinem Traktor fahren ließ. Das durfte ich auch beim Bruder unserer Hausmutter. Zweimal verbrachten wir unseren Sommerurlaub in Friesoythe/Niedersachsen im Elternhaus unserer Hausmutter, ihr Bruder hatte dort einen Bauernhof.

In den ersten Jahren meiner Kinderdorfzeit war Pfarrer Georg Geßner der Vorstand des Vereins Kind und Familie e. V. Hauptberuflich war er als Pfarrer in Kleinrinderfeld tätig. Mit ihm unternahmen wir sehr viele Ausflüge z. B. nach Bad Mergentheim ins Wellenbad. Gemeinsam mit seinen Ministranten waren wir auch auf Zeltlager in Rothenfels am Main oder sind in die Rhön gefahren. Auf dem Main brachte uns Pfarrer Geßner das Wasserskifahren bei, in der Rhön wollten wir in den Weihnachtsferien Skifahren lernen. Leider kam der Schnee erst, als wir wieder in Würzburg waren. Pfarrer Geßner brachte uns sogar ins Ausland. Im Sommer fuhren wir einmal ins schweizerische Davos auf eine Almhütte. Im Winter fuhren einige Kinderdorfkinder mit seiner kirchlichen Jugendgruppe aus Kleinrinderfeld nach Galtür/Österreich zum Skilaufen. Pfarrer Geßner organisierte all dies nicht nur, wahrscheinlich bezahlte er auch viele Aktivitäten.

Eingeladen wurden wir damals auch zum Kilianifest. Anlässlich des Heimtages bekamen wir Freikarten für die Fahrgeschäfte, und das ganze Kinderdorf ging an einem Nachmittag auf die Talavera zum Volksfest. Ob Urlaub, Zeltlager oder Volksfest – durch all diese Unternehmungen nahmen wir die schwierige finanzielle Lage des Kinderdorfes in den siebziger Jahren nur selten wahr.

Damals hätte das Kinderdorf einen großzügigen Sponsor gebraucht

Jedoch hätte das Kinderdorf damals selbst einen großzügigen Sponsor benötigt. Die Häuser waren in die Jahre gekommen, die Möbel waren alt und die Tapeten alles andere als schön. Da war es ein echtes Highlight, als eines Tages alle Kinder neue Betten von der Möbelschreinerei Grönert bekamen. Neben dem Bett gab es für jeden noch einen Nachttisch mit drei Schubladen, die oberste Schublade war abschließbar. Es mag heute als kleines Detail erscheinen, damals freute ich mich sehr über das abschließbare „Geheimfach“. Die neuen Möbel waren zu meiner Zeit die wohl größte Einzelinvestition im Kinderdorf. Dass die wirtschaftliche Situation sehr angespannt war, verdeutlicht auch folgende Geschichte: Über das Geld für neue Tapeten musste unsere Hausmutter mit dem damaligen Vorstand verhandeln. Sie bekam es, jedoch kam keine Malerfirma ins Haus. Tapezieren und streichen mussten wir selbst. Zuerst das Treppenhaus mit überbreiter Korktapete, dann die Küche und das Wohnzimmer mit Raufaser. Irgendwann habe ich in meiner Freizeit dann noch alle Fensterrahmen und Haustüren gestrichen. Nicht nur die von Haus 4, sondern ebenso die von Haus 1, Haus 2 und Haus 3. Die anderen Kinder haben mich sicher für verrückt erklärt, aber im Gegensatz zum Tapezieren gab es für das Fensterstreichen einen kleinen Stundenlohn. Von dem Geld habe ich mir im Kaufhof ein ferngesteuertes Modellauto vom Typ BMW M1 gekauft. Das Auto mit seinen elektrischen Klappscheinwerfern habe ich noch heute.

Emotionale Bindung: Studenten und Soldaten übernahmen die väterliche/männliche Rolle

Wer sich fragt, wie das damals mit der emotionalen Bindung zu unserer Hausmutter oder Kinderpflegerin war, für den habe ich folgende Antwort parat: Diejenigen, die „kuscheln“ wollten, für die stand die Zimmertür unserer Hausmutter offen. Geborgenheit vermittelte aber auch die Kinderpflegerin. Sehr gerne erinnere ich mich an Maria König, sie war viele Jahre bei uns im Haus. Mit ihr konnte man auch über Dinge sprechen, die man nicht gleich mit der Hausmutter bereden wollte. Und für beide galt: Ihnen ist nie die Hand ausgerutscht! 

Ende der siebziger Jahre traten plötzlich ganz neue Gesprächspartner für uns auf die Bildfläche. Zweimal in der Woche kamen Studenten ins Goldene Kinderdorf. Namentlich erinnere ich mich noch an Wolfgang in Haus 4, Rainer in Haus 3 und Franz in Haus 1. Mit Wolfgang sind wir oft ins Schwimmbad gegangen – im Sommer ins Dallenbergbad, im Winter meist ins Kilianeum in der Ottostraße. Wir haben aber auch viele Spaziergänge unternommen und sind gemeinsam auf den Spielplatz oder zum Fußballspielen gegangen. Plötzlich bereicherten männliche Bezugspersonen unser Leben, mit ihnen konnten wir raufen und unsere Kräfte zum Beispiel beim Armdrücken messen. Mit ihnen haben manche von uns auch Musikinstrumente gelernt. Sehr gerne erinnere ich mich an die Sommerurlaube mit den Studenten. Zwei Wochen lang sind sie mit sämtlichen Kinderdorfkindern weggefahren – ganz ohne Hausmütter und Kinderpflegerinnen. In der Jugendherberge Eichstätt mit der ganzen Rasselbande angekommen, drückte einer von uns aus Neugier auf den Knopf des Feuermelders. Das war beim Herbergsvater nicht gerade der beste Einstand. Eine Woche später ging es dann in die Jugendherberge in Dinkelsbühl. Dort gab es einen Malwettbewerb und drei von uns gewannen einen Rundflug über Dinkelsbühl. Ebenso gerne erinnere ich mich an den Urlaub in Pfronten im Allgäu. Mit den Studenten wanderten wir jeden Tag auf einen anderen Berg. Die Urlaube mit ihnen waren ein echtes Highlight in meiner Kinderdorfzeit.

Ein weiteres Highlight für alle Kinderdorfkinder war das Engagement der Soldaten aus der Klingholz-Kaserne. Jahr für Jahr wurden wir in der Vorweihnachtszeit von einem Bundeswehrbus abgeholt und in die Kaserne nahe Giebelstadt gefahren. Dort warteten nicht nur ein leckeres Abendessen sowie Lebkuchen und Plätzchen auf uns, sondern auch der Nikolaus. Der wusste nicht nur zu jedem Kind eine Geschichte zu erzählen, er hatte auch Geschenke dabei. Nur wenige von uns wurden vom Knecht Ruprecht beinahe in den Sack gesteckt. Die Soldaten waren immer wieder auch außerhalb der Weihnachtszeit für das Kinderdorf da. So brachten sie eines Tages einen riesigen Lkw-Reifen ins Kinderdorf und füllten diesen mit Sand auf. Damit hatte Haus 4 plötzlich einen Sandkasten im Garten. Und auf dem eingangs erwähnten Zeltlager versteckten sich die Soldaten als Gespenster verkleidet auf der Burg Rothenfels. Am Ende unserer Nachtwanderung jagten sie uns einen richtigen Schrecken ein. Alle Kinder rannten wie die aufgescheuchten Ameisen durch den Burggarten, das war eine riesen Gaudi.

Am Wochenende gehörte der Gottesdienst zum Pflichttermin

Ruhe kehrte hingegen immer sonntags ein. Unsere christliche Hausmutter war der katholischen St. Alfons Kirche sehr zugewandt. Der Gottesdienst am Wochenende und an Feiertagen war für alle ein Pflichttermin. Ohne Widerrede ging es entweder Samstagabend oder Sonntagmorgen in die  Kirche. Gemeinsam mit dem Pfarrer von St. Alfons wollte meine Hausmutter mich zum Ministrieren überreden – beide haben aber ohne jegliche Diskussion meine Absage respektiert. Ministrieren wollte ich auf keinen Fall, da bastelte ich viel lieber wochenlang vor den jährlichen Pfarrfesten von St. Alfons oder mähte den Rasen vor der Kirche. In Haus 4 bastelten wir wie die Weltmeister. Ob gestrickte Seemänner, mit Kupfer gerahmte Madonnenbilder oder gehäkelte Topflappen – alles wurde beim Fest von St. Alfons an die Besucher verkauft, den Erlös bekam die Kirche.

Irgendwann kam dann die Zeit, in der der sonntägliche Kirchgang nicht mehr ganz so streng gehandhabt wurde. Die Älteren von uns durften alleine um elf Uhr in den Gottesdienst gehen. Bei schönem Wetter ging manchmal aber nur einer von uns in die Kirche. Der Rest trank im nahen Biergarten viel lieber eine Cola und wurde von unserem Kirchgänger auf dem Nachhauseweg über das Wichtigste informiert. Dummerweise sah uns im Biergarten einmal ein ehemaliger Kinderdorfbewohner und verpfiff uns.

Dass der Sonntag unserer Hausmutter heilig war, zeigt auch folgende Geschichte: Wir Jungs spielten in jeder freien Minute Fußball. Alle Kinder aus den Häusern 1 bis 3 durften auch sonntags Fußball spielen. Im Haus 4 galt am Sonntag jedoch Fußballverbot. So etwas konnte auf Dauer nicht gut gehen. Und so nahm einer meiner Kumpels aus Haus 1 meine Fußballklamotten zum Bolzplatz mit und ich verabschiedete mich ein wenig später aus Haus 4 in Straßenkleidung. Anschließend rannte ich zum Bolzplatz, zog mich in den Büschen um und kickte mit. Was passierte? Meine Hausmutter machte mit den restlichen Kindern den üblichen Sonntagsspaziergang. Das hätte ich mir denken können, der Rundgang durch die Grünanlagen war bei schönem Wetter ein festes Ritual. Zum Glück sah einer von den Mitspielern die Meute kommen und warnte mich. Rasch umgezogen ging ich wieder nach Hause. Auf dem Heimweg und zu Hause auf der Terrasse zerbrach ich mir den Kopf über das drohende Donnerwetter. Es kam aber anders: Obwohl meine Hausmutter den ganzen Schwindel bemerkte, hat sie nie ein Wort darüber verloren. Es gab jedoch eine Konsequenz: Seitdem durfte auch ich sonntags Fußball spielen.

Fußballspielen hatte für uns einen extrem hohen Stellenwert. Im Sommer kickten wir bei über 30 Grad und im Winter bei geschlossener Schneedecke auf dem Bolzplatz hinter der St. Alfonskirche. Es war immer möglich, zwei Mannschaften zu stellen. Auf dem kleinen Platz spielten wir 6 gegen 6 aber auch 11 gegen 11. Fußball war unsere Freizeitbeschäftigung Nummer eins. Damit konkurrieren konnte maximal die Tischtennisplatte im Keller von Haus 3. Dort spielten wir mit unglaublicher Begeisterung Tischtennis. Manche von uns waren richtig gut und hätten auch in einem Verein spielen können.

„Nebenberuflicher“ Heimleiter, keine Therapeuten vor Ort, „unbekanntes“ Jugendamt

Die Kirschen vom Nachbarn gemopst oder den Fußball ins Blumenbeet der Nachbarin geschossen – natürlich haben wir Kinderdorfkinder auch mal etwas angestellt. In beiden Fällen waren die betroffenen Nachbarn nicht begeistert. Aber abgesehen davon hielt sich der Ärger in Grenzen. Im Lauf der Jahre verbesserte sich das Verhältnis zu den ehemals schwierigen Nachbarn sogar. Beispielsweise mussten wir die Kirschen nicht mehr mopsen, wie bekamen sie Eimerweise vom Nachbarn geschenkt.

Einmal gab es jedoch richtig Ärger: Einer von uns hatte in einigen Geschäften das Bezahlen „vergessen“. Ob beim Lebensmittelhändler oder in der Drogerie, irgendwann hatte er es wohl übertrieben und flog auf. Einige von uns wussten, dass er ein Langfinger war, keiner kannte jedoch das wahre Ausmaß. Als alles herauskam wurden sein Schrank und das Schränkchen mit den drei Schubladen durchstöbert. In der abschließbaren Schublade seines Nachttisches kam das meiste Diebesgut zutage. Anschließend gab es mit Herrn Schuler (damals nebenberuflicher Heimleiter des Goldenen Kinderdorfs) mächtig Ärger. Mir wurde vorgeworfen, dass ich nichts gesagt hätte. Ich vertrat damals den Standpunkt, niemanden verpfeifen zu wollen. Der Heimleiter bewertete die Situation völlig anders –  da hatte ich das erste Mal richtig Stress im Kinderdorf. Ansonsten hatten wir mit dem Heimleiter nicht viel zu tun. Er war hauptberuflich bei der Caritas beschäftigt und nur ab und zu im Kinderdorf. Für uns Kinder war er im Alltag kaum präsent, für alle Hausmütter dagegen ein wichtiger Ansprechpartner.

Apropos Ansprechpartner: Ich verdanke dem Goldenen Kinderdorf sehr viel, vor allem meiner Hausmutter, die immer an mich geglaubt hat. Aus heutiger Sicht gab es damals aber auch Schwachstellen im Kinderdorf. Beispielsweise sah ich nach meinem Krankenhausaufenthalt nie mehr einen Therapeuten oder Psychologen. Solche Experten existierten seinerzeit nicht im Kinderdorf. Auch vom Jugendamt sprach in all den Jahren nie jemand persönlich mit mir. Jedoch entschied das Jugendamt, dass ich einmal im Monat ein Wochenende lang mein Elternhaus besuchen müsse, damit der Kontakt zur Familie nicht abreiße. Meine Meinung war von keinem Mitarbeiter des Jugendamtes gefragt. Keiner hat jemals gefragt, wie es mir nach den Besuchen ging. Erst als ich älter war, konnte ich selbst entscheiden, ob ich mein Elternhaus besuchen wollte oder nicht.

Das Jugendamt war auch der Grund, warum ich mit 18 Jahren aus dem Kinderdorf auszog. Ein Jahr zuvor hatte ich eine Lehrstelle als Kfz-Mechaniker angetreten. Ich wollte schon immer etwas Handwerkliches machen. Im Kinderdorf reparierte ich Fahrräder und wenn es irgendwas Handwerkliches zu machen gab, war das in Haus 4 meist mein Job.  Außerdem hatten zwei ältere Jungs auch Automechaniker gelernt.

Ausgezogen bin ich, weil das Jugendamt mein Lehrlingsgehalt bis auf ein Taschengeld von 100 DM im Monat einbehielt. 100 DM Taschengeld bekamen damals aber auch alle anderen Kinderdorfkinder ab 16 Jahre, die „nur“ zur Schule gingen und nicht den ganzen Tag arbeiteten. Hinzu kam, dass ich auch das Urlaubs- und Weihnachtsgeld nicht behalten durfte. Das fand ich ausgesprochen ungerecht. Unser Heimleiter hatte dem Jugendamt vorgeschlagen, die Ausbildungsvergütung auf ein gesperrtes Sparkonto einzuzahlen, damit ich nach Beendigung der Lehre und dem anschließenden Auszug aus dem Kinderdorf ein Startkapital hätte. Das Jugendamt lehnte diesen Vorschlag jedoch ab. Mein Arbeitgeber überwies mir Monat für Monat meinen Lohn, davon durfte ich 100 DM behalten. Den weitaus größeren Rest musste ich meiner Hausmutter geben, da ihr wiederum dieser Betrag bereits von dem monatlichen Haushaltsgeld abgezogen wurde. Das sah ich damals nicht ein und zog zurück in mein Elternhaus. Dieser Schritt war ein Fehler, leider hielt  mich niemand davon ab.

Jedoch hatte ich nach meinem Auszug noch viele Jahre sehr guten Kontakt zu meiner Hausmutter. Ich war immer wieder zu Besuch im Goldenen Kinderdorf und übernachtete das ein oder andere Wochenende in Haus 4. Meine erste eigene Wohnung bezog  ich 1990 auf der Keesburg. Leider ist meine Hausmutter bereits 1992 verstorben. Meinen beiden Kindern wäre sie sicher eine gute Oma gewesen, sie hätte ihnen noch vieles mehr über den Papa aus seiner Zeit im Goldenen Kinderdorf erzählen können.

Fazit

Es hat lange gedauert, bis ich mich im Goldenen Kinderdorf zu Hause gefühlt habe. Rückblickend war das Goldene Kinderdorf meine Rettung und die wahrscheinlich beste Einrichtung für mich. Manch ein ehemaliges Kinderdorfkind hat das Kinderdorf komplett aus seiner Lebensgeschichte gestrichen. Ich hingegen habe es nie ganz aus den Augen verloren. Zum einen ist es erfreulich zu sehen, wie positiv sich das Goldene Kinderdorf in den Jahrzehnten weiterentwickelt hat. Zum anderen habe ich erst viele Jahre später wirklich verstanden, was für eine wichtige Rolle es in meinem Leben gespielt hat.

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